Rezension

Die Welt von Olga-Maria Klassen

von Elena Ilyina


Leiterin einer Forschungsabteilung an der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau, Kunsthistorikerin, ehemalige stellvertretende Direktorin für Wissenschaft am Museum für bildende Künste in Nischnij Tagil, Mitglied des Russischen Künstlerverbandes, Mitglied der Assoziation der Kulturmanagervereinigung.



Die meisten Menschen lieben das Meer und bewundern seine Schönheit. Es ist schwierig, sich ständig ändernde Elemente, dauernd wechselnde Linien, Farben und Stimmungen wiederzugeben. Aber wahrscheinlich noch schwieriger ist es, den Geist des Meeres zu bewahren, indem man nicht die Wellen und den Himmel darstellt, sondern nur Gegenstände, die mit ihm assoziiert werden und nur einen Bruchteil seiner Größe in sich tragen.


In den grafischen Werken von Olga-Maria Klassen ist überall Meer und gleichzeitig gibt es dieses dort gar nicht. In Monotypien und Drucken dieser russischen Künstlerin deutscher Herkunft findet man keine bedrohlichen Wellen oder stille Meeresflächen, unermessliche Meeresweiten oder intime Buchten. Vielmehr herrscht in den Arbeiten lediglich ein Gefühl von Meer. Und dennoch, in diesen Arbeiten kann sie als Malerin des Meeres bezeichnet werden, weil im feinen Gemütszustand dieser grafischen Blätter schrille Schreie der Möwen und unhörbares Knirschen des Sandes, nasskaltes Frieren sowie geisterhafte Wassergeräusche und die Aufdringlichkeit der Salzkämme wohnen. Aber die Gesamtheit wird als sich gegenseitig bedrängende Gefühle und Empfindungen wahrgenommen. Das Geflecht des visuell Sichtbaren mit den eigenen Empfindungen ist organisch, und eben das hat der Künstlerin das Erschaffen der Werke ermöglicht, in denen es ihr gelungen ist, ein Gefühl des Daseins dieser gewaltigen Naturkraft wiederzugeben.


Olga-Maria Klassen wurde am Ural geboren. Ihre Vorfahren – Deutsche mit niederländischen Wurzeln - kamen im XIX. Jahrhundert nach Russland. Vielleicht hat die genetische Teilhabe an den Niederlanden, die man „Das Seetor zu Europa“ nennt, Olga-Maria Klassens Liebe zu Wasser und Schiffen bestimmt. In der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts lebte die Familie Klassen in Donezk, in der heutigen Ukraine. Mit Beginn des II. Weltkriegs wurde sie, wie so viele Menschen deutscher Abstammung, in den Ural deportiert – und dort blieb sie. Der Fluss Kama, an dessen Ufern die Familie so viele Jahre verbrachte, war dem Mädchen Lebensquelle und Symbol der inneren romantischen Freiheit – damals noch nicht bewusst gelebt und dennoch unbewusstes Abbild des Seins. Wer ahnte damals schon, dass aus der Fähigkeit, die ewigen Veränderungen der Natur zu betrachten und zu verinnerlichen, eine ganze Reihe grafischer Reflexionen geboren würde. Die erste Ausbildung genoss Olga-Maria Klassen an der grafischen Fakultät des Staatlichen Pädagogischen Instituts in Nischnij Tagil, an der Evgeny Bortnikov, ein herausragender Grafiker und Lehrer, ihr Dozent und Hauptmentor war.


Die zweite Ausbildung, dann schon in Deutschland, absolvierte sie als Studentin in der Klasse des Rektors Prof. Udo Scheel an der Kunstakademie Münster. Während dieser Zeit hat sie viel in der Akademie-Druckwerkstatt unter der Leitung von Wolfram Heistermann gearbeitet, der ihr die zahlreichen Möglichkeiten der Radierung eröffnete – seitdem eine der beliebtesten Techniken von Olga-Maria Klassen. Es sieht so aus, als ob sie in ihrem Schaffen zwei Quellen vereinigte: „von den in Russland gesammelten Ideen inspiriert“ lässt sie sich auf ein Experiment in Deutschland ein. Mit den für einen Künstler grenzenlosen technischen Möglichkeiten für die Umsetzung des Geplanten sucht sie „ausgelöschte Funken“ der Einheit des Menschen mit der Natur; ruhig und bescheiden gibt sie den Menschen die heutzutage vielfach verlorene Fähigkeit, das Selbstverständliche kontemplativ wahrzunehmen.


Aber dennoch, entscheidend für die Entfaltung der Autorin als Künstlerin wurde die russische Industriestadt Nischnij Tagil im Ural, wo eine spezifische Schicht der Künstler-Intelligenz im späten zwanzigsten Jahrhundert die Maßstäbe für die Entwicklung der bildenden Kunst in der Region definierte, deren Ursprünge in der mit Symbolen frei operierenden klassischen Abstraktion liegen, die sich aber gleichzeitig nicht vom figurativen trennt und sich dabei aktiv die Impulse der Natur zu eigen macht. Die hohe Professionalität, das Experimentieren mit offenen Bereichen, Oberflächen, der rein künstlerische Umgang mit Formen und Strukturen zeichnet die Tagiler Künstler aus. Sich in den Traditionen der Weltkunst auskennend, schufen sie Werke, die mit Feingefühl und optischen Akzenten geladen waren; es entstand eine Art Spiel, in dem die Darstellung zur „inneren Selbstinterpretation“ emporgehoben wurde. Diese Kombination ermöglichte einigen Tagiler Künstlern den Aufstieg zu anerkannten Vertretern der Europäischen Grafik und darüber hinaus zu ihren bedeutendsten. Der führende unter ihnen ist Evgeny Bortnikov, ein Meister des Minidrucks und Exlibris, der auch als Buchillustrator arbeitet und in den Bereichen Aquarell, Pastell, Zeichnung u.a.. Olga-Maria Klassens Nähe zur Tagiler Kunstrichtung definiert sich sowohl über praktische Fähigkeiten als auch über ihre eigene Reflexivität, die ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf sich selbst fokussiert: auf das Überdenken der Erfahrung mit Kunst und ihre eigene Erinnerung sowie auf die Mechanismen der Realitätswahrnehmung. Die künstlerische Welt von Olga-Maria Klassen ist typisch und originell zugleich: durch den Einsatz wiedererkennbarer, gegenstandsbezogener Formen in ihren Arbeiten ist die Künstlerin in der Lage, sich auf die Identifizierung ihres inneren Lebens zu konzentrieren, was einem Bekenntnis gleichkommt. Sie verzichtet nicht auf die sichtbare Welt, aber ihre Figuren sind nicht Menschen, sondern Gegenstände, die sie umgeben. Der Meeres- und Naturzyklus, an dem sie die erste Dekade des Jahrhunderts arbeitet, ist eigentlich keine Serie oder abgeschlossene Einheit. Es sind Arbeiten verschiedener Typen und Techniken, Kompositions- und Darstellungsentscheidungen. Aber fast alle diese Arbeiten verbindet ein akutes Gefühl der totalen Isolation. In all ihren Werken ist kein Platz für Menschen. Es existieren lediglich Spuren und ein Hauch des menschlichen Handelns.


Die Werke von Olga-Maria Klassen zeichnen ihre tiefe persönliche Erfahrung der Wirklichkeit und der Probleme von Kunst aus. Wahrscheinlich beeinflusste diese Tatsache in den letzten Jahren die Entstehung zweier grundlegender Kompositionstypen ihres Schaffens. In einigen Werken kommuniziert die Künstlerin mit der Realität aus der Ferne. Als ob sie die Pläne löscht, zwingt sie die Formen der dargestellten, zumeist großen Gegenstände, sich aufeinander zu türmen, zusammengedrängt inne zu halten. Trotz der Tatsache, dass diese großen Schiffe nahe beieinander sind, beeindrucken sie durch ihre erschreckende Einsamkeit. Sie verleiten den Betrachter zum Blick aus einem Versteck in die große Welt, in der er lebt. Nach dem Blickwechsel betrachtet sie einen konkreten Gegenstand aus nächster Nähe: sie erblickt sein eigenes Leben und die Pläne verschwinden. Es wirken allein die Form und die Fläche, das Blatt atmet befreiend auf, pulsiert und die Darstellung gewinnt ein Maximum an Lebhaftigkeit. Ein derartiger Fokuswechsel von Maximalität auf Minimalität ist bemerkenswert.


Es gibt keine Ansicht auf der mittleren Ebene, keine eigentliche Bewertung der Realität, aber einen Tauchgang in ihre eigenen Vorstellungswellen und Visionen, die Wellen der Erinnerung, der Glückseligkeit und des Traums. Die Konzentration auf diese Phasen unendlich vielfältiger Erscheinungsformen des Lebens bestimmt die versteckte innere Dynamik statischer Kompositionen. Zum Teil sind diese Blätter wie die Brailleschrift. Vorsichtig und zweifelnd berührt die Künstlerin den umliegenden Raum, ihren Empfindungen scharf lauschend. Die Apperzeptionen der Autorin sind von der Bestrebung getrieben, die Welt im Detail und in der Essenz zu verstehen – so entsteht das Konzept ihrer Integrität.


Wahrscheinlich unterstützte die Künstlerin genau diese Art der Wahrnehmung von Wirklichkeit in ihren Schwarzweißzeichnungen von Landschaften oder Stillleben mit dynamischer Wirkung bestimmter statischer Objekte, die aus dem Verkehr gezogen wurden und inne halten. Die Gegenstände scheinen für die Künstlerin zu posieren. Sie führt mit ihnen einen stillen Dialog. Diese grafischen Blätter sind kein neuer Typus von Landschaften. Es waren englische Künstler, allen voran William Turner, die im XIX. Jahrhundert einen neuen Typus der Landschaftsmalerei erfunden haben. Endlich wie bei neuen Formen des Stilllebens (natura morta) werden Innenbilder, Erinnerungen und Erfahrungen des Künstlers offenbart. Die Nähe zu diesen Zusammenhängen ermöglicht es Olga-Maria Klassen, in ihre eigenen Kindheitserfahrungen einzutauchen, die sie versucht, in Bildern und Aussagen zu visualisieren. Lakonische, fast monochrome Kompositionen, mal schwankend wie Erinnerungen, mal konkret - aber nicht greifbar, sondern manchmal unerreichbar fern. In jedem Fall behalten die gegenstandsbezogenen Formen ihre äußeren Merkmale, gewinnen dabei Strukturen mit eigenem Recht auf künstlerische Wirkung. Hier macht sich der Einfluss der Tagiler Schule bemerkbar, wo die Idee des Unpersönlichen ein eigenes und typisches Merkmal ist. Diese Idee zählt zu „einer der wichtigsten während der Übergangszeit von der konkreten zur abstrakten Kunst, auf dem Weg der Entäußerung der materiellen Welt hin zum Verkünden geistiger Werte“. [1]


Als die russischen Künstler in den achtziger und neunziger Jahren auf der Suche nach Auswegen aus der realistischen Malerei waren, fand dieser Trend seinen Ausdruck in mannigfaltigen Kunstrichtungen. Eine von ihnen, ohne mit der Verbundenheit zur Außenwelt zu brechen, war auf der Suche nach Formen und Ausdrucksmitteln innerer, emotionaler Klänge – sei es des Autors oder des abgebildeten Gegenstandes, Phänomens, Objekts.


Olga-Maria Klassen ist erfinderisch in der Wiedergabe der Bewegung einfacher Objekte. In einigen Werken sind sie illusionistisch wie eine Fata Morgana und bereit, in ihrer Zerbrechlichkeit zu verschwinden. In anderen ... – eine flexible Linie, schnell die Form betonend, wie der stachelige Strich in den willkürlichen Kontrakturen auf dem Sand ausgebreiteter Netze. In diesen Fragmenten erscheint das einfachste und unkomplizierteste irdische Dasein, in dem die Künstlerin den wahren Wert, seine subtile Schönheit sucht.

Die Werke sind nicht literarisch, nicht erzählerisch, sie sind wie Fragmente einer Geschichte oder einer Novelle. Die Werke mit nahem Fokus sind wie „redende Skizzen“, unglaublich beweglich in ihrer monochromen Raffinesse. Am häufigsten finden sich Netze, Fische und Sand. Aber für die Autorin sind es „...Erinnerungen an meinen Großvater, Flüsse und Meere, wo ich war und wo es mich hinzieht. Jedes Netz ist mit irgendeiner Erinnerung, neuen Ideen oder Träumen verbunden. Ich empfinde es als angenehm die Netze zu berühren, ich liebe es, mit ihren Strukturen während des Druckprozesses zu spielen.“ Für die Künstlerin ist das Bild selbst wichtig, das Alltägliche, das in einem einzigen System des Universums vereint ist. So beispielsweise die Darstellung der Fische in den Netzen auf dem Sand. Sie bewundert nicht ihre Schönheit wie es japanische Künstler taten. Sie manifestiert sich als exakte Beobachterin, die weniger nach Typisierung und Charakterisierung des jeweiligen Gegenstandes strebt, sondern sich primär an der Art und Weise des Ausdrucks bemüht. In ihrem Schaffen arbeitet Olga-Maria Klassen vor allem im Bereich der klassischen Linolschnitte, Radierungen und Monotypien - Traditionen, denen sie treu bleibt. Die schwierige technische Arbeit, mühsames Erfinden der Formen verzaubern sie.


Das Wichtigste aber ist die Unmittelbarkeit des Ausdrucks, verbunden mit der absoluten Normalität der jeweiligen Situation, deren eigener Wert künstlerisch aufgedeckt wird. Genau darin liegt der Schlüssel zur von der Künstlerin verstandenen Integrität des Lebens, zum Wesen der Natur, zum eigenen Weg.

 

[1] Awtonomowa N.B. Materialien der wissenschaftlichen Konferenz «Wipperowsche Lesungen. 2007» Ausgabe XXXVIII. Stattliches Museum darstellender Künste A.S. Puschkin. 2008. S. 29

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